Auch wenn der Geburtstag meines Profs Frank Deppe schon einige Tage her ist, möchte ich gerne noch den in der jungen Welt vom 23.9.2011 erschienenen Artikel von Ingar Solty in Absprache mit dem Autor mit meinen Leser_innen teilen.
Theorie, praktisch
Kein Jazz ohne Trompete, kein Marxismus ohne Arbeiterklasse: Der Politikwissenschaftler Frank Deppe wird heute 70
Von Ingar Solty
Heute wird der kritische Wissenschaftler und Intellektuelle Frank Deppe
70 Jahre alt. Morgen werden Leben und Werk des 2006 emeritierten
Marburger Politikprofessors im Bürgerhaus Gutleut in Frankfurt am Main
gewürdigt, wo seine Schüler ihm zu Ehren Vorträge zu Themen der
Marburger Schule halten.
Die Marburger Schule ist unlösbar mit dem Namen Frank Deppe verknüpft.
Es war die weltweite Vorwärtsperiode der Linken zwischen 1965 und 1975,
die seinen politischen und beruflichen Werdegang prägte. 1968
promovierte das Bundesvorstandsmitglied des Sozialistischen Deutschen
Studentenbundes mit einer Arbeit über Blanqui bei Wolfgang Abendroth.
Der Verfassungsrechtler hatte in seiner Grundgesetzinterpretation einen
konstitutionellen Weg zum Sozialismus begründet und in dieser Tradition
die Marburger Politikwissenschaft aufgebaut. Mit dem Schwung der
Studierendenbewegung (»Marx an die Uni, Deppe auf H4!«) wurde Deppe 1972
zum ordentlichen Professor berufen. Durch seinen und den Einfluß
anderer Abendroth-Schüler entwickelte sich eine der reaktionärsten
Universitätsstädte Deutschlands zu einem Zentrum linker Theoriebildung
mit internationalem Ruf. In der bürgerlichen Presse als »rotes Marburg«
und »DKP-Kaderschmiede« verschrien, zogen Deppe und seine Kollegen aus
allen Teilen Deutschlands und der Welt Studierende an und brachten bis
zur Abwicklung der Marburger Schule in den Nuller-Jahren Hunderte von
Schülern hervor, die heute von Jena über Tübingen bis ins ferne Südkorea
Professorenstellen besetzen. Dies ist umso bedeutender, da im Kontext
des Kalten Krieges die Positionierung links von der SPD politischer
Verfolgung ausgesetzt war, an deren Ende oft das Berufsverbot stand.
Frank Deppe gehört zu einem Intellektuellentypus, der zunehmend aus dem
akademischen Betrieb verschwindet. Lange bevor er die Liebe zu Gramscis
Marxismus entdeckte, begriff er die Bedeutung organischer
Intellektueller für den Klassenkampf. Im Gegensatz zur Frankfurter
Schule, die er während seines Studiums in der Mainmetropole
kennengelernt hatte, suchte er die Einheit von Theorie und Praxis durch
das Andocken an die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen außerhalb
der Universität zu verwicklichen.
Zum Markenzeichen Deppes und der Marburger Schule ingesamt wurde die
allgemein zugängliche Sprache, mit der komplexe theoretische
Zusammenhänge erläutert wurden. Die immens hohen Auflagenzahlen der
Marburger Alternativhistoriographien zur bürgerlichen Gesellschaft in
Deutschland und ihrem (Sonder-)Weg in den Faschismus, zu Gewerkschaften
und Sozialdemokratie belegen dies eindrucksvoll. Und während Deppes
Kollegen Reinhard Kühnl, Georg Fülberth und Dieter Boris einen
beispiellosen Einfluß auf die Lehrerausbildung entfalten konnten,
entwickelte sich Deppe zu einem der aktivsten Intellektuellen der
Arbeiterbewegung, deren linken Flügel er ähnlich wie Abendroth
unterstützte. Deppe entfaltete eine unermüdliche Vortragsarbeit auf
allen Funktionsebenen der Gewerkschaften. In seinen vielen Monographien,
Aufsätzen und Artikeln, beispielsweise für das »Forum Gewerkschaften«
der Zeitschrift Sozialismus, verstand es Deppe, die Alltagserfahrungen
in den Betrieben zu theoretisieren und gleichzeitig die theoretischen
Erkenntnisse wieder in die betrieblichen und politischen Kämpfe der
Lohnabhängigen einfließen zu lassen. So entwickelte sich Marburg zur
vielleicht bedeutendsten Adresse des Austausches zwischen Betrieben und
Hochschule und der Vermittlung von praktischen Klassenkampferfahrungen
und ihrer theoretischen Reflexion. Daß der Abbau von traditionellen
Vorurteilen zwischen Hand- und Kopfarbeitern erfolgreich war, belegt die
Tatsache, daß sich viele der unzähligen Schüler aus Deppes fast
40jährigen Lehrtätigkeit heute bei IG Metall und ver.di wiederfinden
lassen, von den untersten Verwaltungsebenen bis in die Strategie- und
Vorstandsabteilungen.
In der Rezeption der großen marxistischen Theoriedebatten warf er bei
aller Kritik des Historismus niemals die Historie selbst über Bord.
Linke Ideologiekritik, abgehoben vom Materialismus, stößt bei ihm auf
Unverständnis. Von diesem Marxismusverständnis zehrten die vielen
Mitglieder der zwei von ihm ins Leben gerufenen, langlebigen
Arbeitskreise: der »Marxistische Arbeitskreis« und die »Forschungsgruppe
Europäische Gemeinschaft«. Einen verbindlichen Kanon gab es nicht. Die
Marburger Schüler eint letztlich nur die Haltung, daß Marxismus ohne
Arbeiterbewegung in etwa das gleiche ist wie Jazz ohne Trompete – eine
für den leidenschaftlichen Bigband-Blechbläser Deppe undenkbare
Vorstellung.
Jedes Jahr hielt er Vorlesungen über einen bürgerlichen Staatsdenker.
1987 schrieb er ein Standardwerk zu Machiavelli. In der letzten Zeit vor
seiner Emeritierung 2006 und danach entstand Deppes Opus magnum: Auf
der Grundlage der gramscianischen Einsicht in die Bedeutung der
Intellektuellen für den Klassenkampf legte Deppe in vier monumentalen
Bänden die erste Darstellung der Geschichte der bürgerlichen
Klassengesellschaft im zwanzigsten Jahrhundert vor, die diese von ihren
zentralen Denkern her rekonstruiert. Damit schuf er ein Werk, das als
notwendige Ergänzung zum vierten Band des von ihm hochverehrten Eric
Hobsbawms über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (»Das
Zeitalter der Extreme«) zu sehen ist und das den Vergleich zu diesem
nicht scheuen muß.
2007 trat Frank Deppe zum ersten Mal in seinem Leben einer Partei bei,
der Linkspartei. Jahrezehntelang hatte man unter den verheerenden
Bedingungen des Kalten Krieges für die Etablierung einer
antikapitalistischen Massenpartei im Westen gekämpft – viele bezahlten
dies mit der Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz. Es ist wohl nicht
übertrieben zu sagen: Ohne Frank Deppes Wirken und das seiner Marburger
marxistischen Kollegen, wäre es wohl nie oder nicht so leicht zur
Gründung der WASG und Entstehung einer gesamtdeutschen Linkspartei
gekommen.
2 Kommentare:
Kleine 'unwichtige' Frage:
Wieviele seiner ehemaligen Studenten sind arbeitslos, kämpfen ums Überleben? Die leicht -bei anderer Qualifikation- einen Job gefunden hätten?
Ich führe dazu keine Statistik, weiß aber von keinen Massen von Deppe-Schüler_innen, die auf der Straße sind, außer von denen, die sich für ihre und die Rechte der Lohnabhängigen einsetzen - auf der Straße und in ihren Arbeitszusammenhängen.
Insofern gibt es weniger Kampf ums Überleben, sondern Klassenkampf in verschiedenen Formen, den die ehemaligen Studierenden weiterführen.
Für mich persönlich kann ich sagen, dass ich eine unbefristete und vernünftig bezahlte Vollzeitstelle habe, die ich ohne mein Politikwissenschaftsstudium in Marburg nicht inne hätte.
Kommentar veröffentlichen