7. Oktober 2011

Frank Deppe zum 70.

Auch wenn der Geburtstag meines Profs Frank Deppe schon einige Tage her ist, möchte ich gerne noch den in der jungen Welt vom 23.9.2011 erschienenen Artikel von Ingar Solty in Absprache mit dem Autor mit meinen Leser_innen teilen.

Theorie, praktisch

Kein Jazz ohne Trompete, kein Marxismus ohne Arbeiterklasse: Der Politikwissenschaftler Frank Deppe wird heute 70

Von Ingar Solty

Heute wird der kritische Wissenschaftler und Intellektuelle Frank Deppe 70 Jahre alt. Morgen werden Leben und Werk des 2006 emeritierten Marburger Politikprofessors im Bürgerhaus Gutleut in Frankfurt am Main gewürdigt, wo seine Schüler ihm zu Ehren Vorträge zu Themen der Marburger Schule halten.

Die Marburger Schule ist unlösbar mit dem Namen Frank Deppe verknüpft. Es war die weltweite Vorwärtsperiode der Linken zwischen 1965 und 1975, die seinen politischen und beruflichen Werdegang prägte. 1968 promovierte das Bundesvorstandsmitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes mit einer Arbeit über Blanqui bei Wolfgang Abendroth. Der Verfassungsrechtler hatte in seiner Grundgesetzinterpretation einen konstitutionellen Weg zum Sozialismus begründet und in dieser Tradition die Marburger Politikwissenschaft aufgebaut. Mit dem Schwung der Studierendenbewegung (»Marx an die Uni, Deppe auf H4!«) wurde Deppe 1972 zum ordentlichen Professor berufen. Durch seinen und den Einfluß anderer Abendroth-Schüler entwickelte sich eine der reaktionärsten Universitätsstädte Deutschlands zu einem Zentrum linker Theoriebildung mit internationalem Ruf. In der bürgerlichen Presse als »rotes Marburg« und »DKP-Kaderschmiede« verschrien, zogen Deppe und seine Kollegen aus allen Teilen Deutschlands und der Welt Studierende an und brachten bis zur Abwicklung der Marburger Schule in den Nuller-Jahren Hunderte von Schülern hervor, die heute von Jena über Tübingen bis ins ferne Südkorea Professorenstellen besetzen. Dies ist umso bedeutender, da im Kontext des Kalten Krieges die Positionierung links von der SPD politischer Verfolgung ausgesetzt war, an deren Ende oft das Berufsverbot stand.

Frank Deppe gehört zu einem Intellektuellentypus, der zunehmend aus dem akademischen Betrieb verschwindet. Lange bevor er die Liebe zu Gramscis Marxismus entdeckte, begriff er die Bedeutung organischer Intellektueller für den Klassenkampf. Im Gegensatz zur Frankfurter Schule, die er während seines Studiums in der Mainmetropole kennengelernt hatte, suchte er die Einheit von Theorie und Praxis durch das Andocken an die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen außerhalb der Universität zu verwicklichen.

Zum Markenzeichen Deppes und der Marburger Schule ingesamt wurde die allgemein zugängliche Sprache, mit der komplexe theoretische Zusammenhänge erläutert wurden. Die immens hohen Auflagenzahlen der Marburger Alternativhistoriographien zur bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland und ihrem (Sonder-)Weg in den Faschismus, zu Gewerkschaften und Sozialdemokratie belegen dies eindrucksvoll. Und während Deppes Kollegen Reinhard Kühnl, Georg Fülberth und Dieter Boris einen beispiellosen Einfluß auf die Lehrerausbildung entfalten konnten, entwickelte sich Deppe zu einem der aktivsten Intellektuellen der Arbeiterbewegung, deren linken Flügel er ähnlich wie Abend­roth unterstützte. Deppe entfaltete eine unermüdliche Vortragsarbeit auf allen Funktionsebenen der Gewerkschaften. In seinen vielen Monographien, Aufsätzen und Artikeln, beispielsweise für das »Forum Gewerkschaften« der Zeitschrift Sozialismus, verstand es Deppe, die Alltagserfahrungen in den Betrieben zu theoretisieren und gleichzeitig die theoretischen Erkenntnisse wieder in die betrieblichen und politischen Kämpfe der Lohnabhängigen einfließen zu lassen. So entwickelte sich Marburg zur vielleicht bedeutendsten Adresse des Austausches zwischen Betrieben und Hochschule und der Vermittlung von praktischen Klassenkampferfahrungen und ihrer theoretischen Reflexion. Daß der Abbau von traditionellen Vorurteilen zwischen Hand- und Kopfarbeitern erfolgreich war, belegt die Tatsache, daß sich viele der unzähligen Schüler aus Deppes fast 40jährigen Lehrtätigkeit heute bei IG Metall und ver.di wiederfinden lassen, von den untersten Verwaltungsebenen bis in die Strategie- und Vorstandsabteilungen.

In der Rezeption der großen marxistischen Theoriedebatten warf er bei aller Kritik des Historismus niemals die Historie selbst über Bord. Linke Ideologiekritik, abgehoben vom Materialismus, stößt bei ihm auf Unverständnis. Von diesem Marxismusverständnis zehrten die vielen Mitglieder der zwei von ihm ins Leben gerufenen, langlebigen Arbeitskreise: der »Marxistische Arbeitskreis« und die »Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaft«. Einen verbindlichen Kanon gab es nicht. Die Marburger Schüler eint letztlich nur die Haltung, daß Marxismus ohne Arbeiterbewegung in etwa das gleiche ist wie Jazz ohne Trompete – eine für den leidenschaftlichen Bigband-Blechbläser Deppe undenkbare Vorstellung.

Jedes Jahr hielt er Vorlesungen über einen bürgerlichen Staatsdenker. 1987 schrieb er ein Standardwerk zu Machiavelli. In der letzten Zeit vor seiner Emeritierung 2006 und danach entstand Deppes Opus magnum: Auf der Grundlage der gramscianischen Einsicht in die Bedeutung der Intellektuellen für den Klassenkampf legte Deppe in vier monumentalen Bänden die erste Darstellung der Geschichte der bürgerlichen Klassengesellschaft im zwanzigsten Jahrhundert vor, die diese von ihren zentralen Denkern her rekonstruiert. Damit schuf er ein Werk, das als notwendige Ergänzung zum vierten Band des von ihm hochverehrten Eric Hobsbawms über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (»Das Zeitalter der Extreme«) zu sehen ist und das den Vergleich zu diesem nicht scheuen muß.

2007 trat Frank Deppe zum ersten Mal in seinem Leben einer Partei bei, der Linkspartei. Jahrezehntelang hatte man unter den verheerenden Bedingungen des Kalten Krieges für die Etablierung einer antikapitalistischen Massenpartei im Westen gekämpft – viele bezahlten dies mit der Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz. Es ist wohl nicht übertrieben zu sagen: Ohne Frank Deppes Wirken und das seiner Marburger marxistischen Kollegen, wäre es wohl nie oder nicht so leicht zur Gründung der WASG und Entstehung einer gesamtdeutschen Linkspartei gekommen.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Kleine 'unwichtige' Frage:
Wieviele seiner ehemaligen Studenten sind arbeitslos, kämpfen ums Überleben? Die leicht -bei anderer Qualifikation- einen Job gefunden hätten?

fabelhaftewelt hat gesagt…

Ich führe dazu keine Statistik, weiß aber von keinen Massen von Deppe-Schüler_innen, die auf der Straße sind, außer von denen, die sich für ihre und die Rechte der Lohnabhängigen einsetzen - auf der Straße und in ihren Arbeitszusammenhängen.
Insofern gibt es weniger Kampf ums Überleben, sondern Klassenkampf in verschiedenen Formen, den die ehemaligen Studierenden weiterführen.
Für mich persönlich kann ich sagen, dass ich eine unbefristete und vernünftig bezahlte Vollzeitstelle habe, die ich ohne mein Politikwissenschaftsstudium in Marburg nicht inne hätte.

 
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