In den letzten Jahren hat sich die gesellschaftliche und kirchliche
Diskussion um Rassismus intensiviert. Insbesondere die sich in Folge der
brutalen Ermordung von George Floyd global ausweitende Black Lives
Matter Bewegung hat das Thema (anti-Schwarzer) Rassismus in den
öffentlichen Fokus gerückt. So werden rassismuskritische Ansätze aus
Selbstorganisation, Aktivismus und politischer Bildung inzwischen
erfreulich breit diskutiert. Zugleich löst diese Debatte Gegenwehr
insbesondere aus reaktionären politischen Spektren aus, aber auch Disput
zwischen unterschiedlichen diskriminierungssensiblen Ansätzen.
Antisemitismus- und Rassismuskritik im Konflikt
Weitere Fortschritte im Kampf gegen Rassismus bedürfen breiter
Bündnisse und müssen gegen ablehnende Teile der Gesellschaft im Verbund
mit solidarischen und offenen Teilen der Gesellschaft erarbeitet werden.
Ein Konflikt, der Fortschritte zusätzlich hemmt, ist die oftmals
unproduktive Debatte zwischen Engagierten gegen Rassismus und
Engagierten gegen Antisemitismus im eher liberalen politischen Spektrum.
Dieser Konflikt lässt Raum für eine rassistische Instrumentalisierung
von Israel-Solidarität und Antisemitismuskritik von rechts, die
Antisemitismus vor allem muslimisch markierten Menschen zuschreibt und
so den Antisemitismusvorwurf von sich selbst weitgehend fernhält.
Jahrhundertealte rassistische und jahrtausendealte antisemitische
Denkmuster und Strukturen sind nicht überwunden. Es ist nötig, diese zu
reflektieren und am Abbau von Rassismus und Antisemitismus zu arbeiten.
Im besten Falle verstärken sich diese Prozesse oder laufen einander
zumindest nicht zuwider. Derzeit stehen einer gemeinsamen Bearbeitung
der Probleme – neben klassischer Erinnerungsabwehr – zwei miteinander
verbundene Konfliktfelder im Weg: 1. Gedenken an die Shoah im Verhältnis
zur Aufarbeitung des europäischen Kolonialismus; 2. einseitige
Parteiergreifung im israelisch-palästinensischen Konflikt mit
einengender Fokussierung auf antisemitismuskritischer Israel-Solidarität
oder rassismuskritischer Palästina-Solidarität.
Antisemitismus auf der documenta fifteen
An der erstgenannten Auseinandersetzung zwischen dem Gedenken an die
Shoah und der Bearbeitung der Kolonialgeschichte entzündet sich der
Konflikt zwischen postnationalsozialistischer Antisemitismuskritik und
postkolonialer Rassismuskritik. Die Diskussion um antisemitische
Darstellungen auf der documenta fifteen zeigte, wie schwierig eine
Verständigung ist. Dass Antisemitismus ein globales Phänomen ist und
sich antisemitische Motive somit in Kunstwerken indonesischer und
anderer Künstler*innen finden, sollte nicht verwundern. So weist die
Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt in ihrer Analyse
„documenta fifteen“ darauf hin, dass antisemitische Motive aufgegriffen
werden, weil die ideologische Struktur des Antisemitismus eine
Täterfigur anbietet, auf die sich Vieles projizieren lässt, das mit
erfahrener Ungerechtigkeit und Ausbeutung verbunden ist. Hier kann es
nicht darum gehen, Respekt für unterschiedliche Erfahrungsräume
aufzubringen, in dem Sinne, dass es eine „provinzielle“ deutsche und
jüdische „Überempfindlichkeit“ wegen der Shoah gebe, wie es in der
Debatte zu hören war. Als global verantwortungsfähige Subjekte sollten
wir Künstler*innen weltweit zutrauen, ihre Kunst bewusst zu gestalten.
Diese darf dann weltweit rassismus- und antisemitismuskritisch
eingeordnet werden im Bewusstsein der wechselhaften Geschichte von
Antisemitismus und Rassismus. Ein Hinweis auf die Entstehung eines
Kunstwerks im „globalen Süden“ reicht nicht als Beleg dafür, dass es
nicht antisemitisch wirken könne, sondern deutet auf Schuldabwehr aus
Sicht der Künstler*innen oder eine paternalistische Haltung hin, als
könne oder müsse Kunst aus dem globalen Süden nicht
verantwortungsbewusst gegenüber Antisemitismus sein.
Entlastung als Motiv
Antisemitisches Denken bietet eine Täterfigur auch für aktuelle
Gerechtigkeitsdebatten. Teile des öffentlich wahrnehmbaren
antirassistischen Aktivismus sehen diese Figur im Staat Israel oder im
„Jüdischen“ als vermeintlich konkretes Bild unrechtmäßiger abstrakter
Macht. Die so Argumentierenden entlasten ihre eigene Position als
vermeintlich unschuldig, indem sie die eigene Verstrickung in globale
Ungleichheitsverhältnisse auf eine von ihnen selbst abgrenzbare
Täterfigur projizieren. Die Position der Unschuld ist eine begehrte
Position, gerade im postnationalsozialistischen Deutschland. Das jetzige
Bewusstsein für die Geschichte und Wirkung der Shoah, das gegen viele
Widerstände in Deutschland erkämpft wurde, ist wiederum keine spezifisch
deutsche Angelegenheit. In einer globalisierten Welt kann von allen,
die sich öffentlich äußern, ein Grundwissen hinsichtlich des
Massenmordes an den europäischen Jüdinnen und Juden und
der zugrundeliegenden Vernichtungsabsicht erwartet werden. Zugleich
bleibt die Aufarbeitung des Rassismus während und nach der Kolonialzeit
ein drängendes und zentrales Anliegen, das aber nicht gegen
Erinnerungsarbeit an der Shoah und den Kampf gegen Antisemitismus
ausgespielt werden darf. Statt eine Opferkonkurrenz zu forcieren,
sollten wir fragen, wie wir Verantwortung übernehmen können für die
Folgen von Nationalsozialismus und Kolonialismus. Statt eine bestimmte
Erinnerung zurückzudrängen, sollten wir rassistische und antisemitische
Geschichtszusammenhänge mit ihren jeweiligen ideologischen Bestandteilen
zeigen und nach Wegen der solidarischen Auseinandersetzung suchen.
Von Dichotomie zu Ambivalenz
Eine besondere Schwierigkeit ist, dass Antisemitismus- und
Rassismuskritik identitätsrelevant sind. Dies sticht bei der
Lagerbildung im Israel-Palästina-Konflikt hervor, in der oft
Antisemitismusvorwurf gegen Rassismusvorwurf steht. Durch die eingeengte
Sicht der jeweiligen Position fällt die Anerkennung eigener Schuld
besonders schwer oder wird als gar nicht vorhanden oder als legitime
Reaktion verworfen. Leider führt diese Engführung immer wieder dazu,
dass ausgerechnet dringend nötige Dialog- und Versöhnungsprojekte
delegitimiert werden, weil sie angeblich der Gegenseite helfen oder
diese legitimieren würden.
In der produktiven Beschäftigung mit solchen Ambivalenzen kann an
frühere Ansätze angeknüpft werden. Jean Améry, der als Jude und
Kommunist von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, befasste sich Ende
der 1960er mit Aspekten seiner eigenen Gewalterfahrung und derjenigen
Frantz Fanons, einem Vordenker der Dekolonisation. Auf der Jahrestagung
der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus im November
2022 (siehe auch die Rubrik „Streiflichter“) warb María do Mar Castro
Varela, Professorin an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, für gute
Praxisbeispiele der Vergangenheit und für Differenzierung:
Post-Kolonialismus sei nicht gleich Rassismuskritik. Für eine gute
Debatte werde vertieftes Wissen postkolonialer und jüdischer Studien
benötigt, um Geschichten sichtbar zu machen und „unaussprechliche Felder
zu kartieren“. Sie erinnerte an vergangene jüdische und
rassismuskritische Allianzen, beispielsweise Angela Davis‘ Studium bei
Marcuse und Adorno und Edward Saids Solidarität mit Juden und der
gleichzeitigen Bearbeitung des Traumas seiner Flucht aus Palästina.
María do Mar Castro Varela verbindet das Ziel der Offenlegung von
Ambivalenzen der Moderne und der Aufklärung. Dafür müsste die affektive
Seite der Debatte stärker beleuchtet werden. Im Verbund von Jüdischen
Studien, Antisemitismus- und Rassismuskritik müsste nach do Mar Castro
Varela nicht dichotom, sondern „kontrapunktisch gedacht“ werden, weil
die Positionen aufeinander angewiesen seien und sich die andere Position
in der eigenen spiegeln müsse. Wenn Empathie im Mittelpunkt stünde,
würden verschiedene Traumata nicht gegeneinander ausgespielt und es
könne der Notwendigkeit, ethische Reflexe auszubilden entsprochen
werden. Dafür wäre es wichtig, eigenes Leid punktuell zu überbrücken, um
anderes Leid an sich heranzulassen. Mit dieser Haltung erscheint das
Ziel erreichbar, „universalistische Identitätspolitik, die die
Anerkennung von Vielfalt, Gleichheit und Uneindeutigkeit in einem
gesellschaftlichen Zustand erstrebt, in dem man ohne Angst verschieden
auch von sich selbst sein kann“ (Holz/Haury 2021, S. 367).
Alle Bürger*innen und Institutionen sollten sich gegen falsche
„Eindeutigkeiten“ und gegen Antisemitismus und Rassismus stellen, da
diese die auf gleichen Rechten für alle basierende, offene und
demokratische Gesellschaft angreifen. Der Herausforderung, dass diese
zugleich massiv rassistisch und antisemitisch geprägt ist, gilt es sich
zu stellen, gerade in Zeiten, in denen die Demokratie zunehmend unter
Druck gerät.
Literatur:
Amadeu-Antonio-Stiftung (2022): Lagebild Antisemitimus: Shoah-Gedenken vs. Antisemitismusbekämpfung?, 13.10.2022, https://www.belltower.news/lagebild-antisemitimus-shoah-gedenken-vs-antisemitismusbekaempfung-139911/
Blöser, Matthias (2015): Antisemitische Ressentiments nach Vortrag
über „Givat Haviva“, in: pax christi-Zeitschrift für das Bistum Limburg
3/2015, Text verfügbar unter: https://de.linkedin.com/pulse/antisemitische-ressentiments-nach-vortrag-%C3%BCber-givat-haviva-bl%C3%B6ser
Holz, Klaus, Haury, Thomas (2021): Antisemitismus gegen Israel, Hamburger Edition HIS Verlag, Hamburg
Mendel, Meron, Cheema, Saba-Nur, Arnold, Sina (Hg.) (2022):
Frenemies. Antisemitismus, Rassismus und ihre Kritiker*innen, Verbrecher
Verlag, Berlin
Messerschmidt, Astrid (2022): documenta fifteen - Antisemitismus und Kunst, 28.07.2022, https://www.migazin.de/2022/07/28/documenta-fifteen-antisemitismus-und-kunst/
Dieser Text von Matthias Blöser erschien zuerst im Jahresbericht 2022 des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN, der hier verfügbar ist: https://www.zgv.info/das-zentrum/aus-unserer-arbeit.