12. Februar 2009

Israel zwischen Fortschritt, Stagnation und Reaktion

Nach den Wahlen in Israel (eine Aufschlüsselung der Wahlergebnisse nach Stadt, Region, Bevölkerungsgruppe oder auch Wohnart wie Kibbuzim oder Siedlungen gibt Haaretz) und dem Rechtsrutsch in der Knesset spricht mein guter Freund und Blogkamerad Henning davon, dass Israel am Scheideweg stünde - die Wahl zwischen einer Regierung der Mitte und einem "rechtsextremen" Bündnis. Da ist zwar sicher etwas dran, denn Regierungspolitik spielt sicherlich eine zentrale Rolle in der Entwicklung Israels und dem Verhältnis zu den Nachbarn in der Region, aber gleichzeitig ist die Wahl im Rahmen der letzten Monate und insbesondere des Gazakrieges zu sehen und somit nicht sonderlich überraschend, außer dass die Arbeitspartei trotz des aus ihrer Sicht "erfolgreichen" Krieges so stark verloren hat. Insofern folgt das Ergebnis zunächst den realen Entwicklungen, auch wenn letztere wiederum nachhaltig durch das neue Kräfteverhältnis beeinflusst wird - zumindest bis zur nächsten Wahl oder dem Scheitern der noch zu bildenden Koalition, was beides relativ schnell eintreten könnte. Die junge Welt spricht heute davon, dass Israel den Krieg gewählt habe und das ist auch nicht ganz von der Hand zu weisen angesichts der überwältigenden Mehrheit der Rechten in der Knesset. Wie in diesem radikalen politischen Klima der Frieden vorangebracht werden soll, ist mir schleierhaft.
Mir geht es aber auch darum den Blick vom politischen Alltagsgeschäft auf grundlegendere Probleme (nicht nur) der israelischen Gesellschaft zu lenken, die Moshe Zuckermann in einem Interview einmal so beschrieben hat: "Es geht mir um Herrschaftsverhältnisse, die nur dadurch zu verändern sind, dass der Herr aufhört Herr zu sein und der Knecht aufhört Knecht zu sein. Das ist im Moment das zentrale Problem in Israel und Palästina." Doch wie kann momentan eine Strategie für eine herrschaftsfreie Gesellschaft in Israel aussehen? Darauf kann ich keine Antwort geben, denn sie muss sich aus den dortigen emanzipatorischen Kämpfen ergeben. Vom Parlament ist jetzt noch weniger bis nichts in dieser Richtung zu erwarten als vorher schon. Der Kampf um Befreiung steht heute und in der absehbaren Zukunft in direktem Zusammenhang mit der Existenz Israels. Damit setzt sich Moshe Zuckermann in einen Text mit dem Titel »Existenzrecht« und Existenz auseinander, der am 10.2. in der jungen Welt erschienen ist. Es handelt sich um einen Vorabdruck aus seinem Buch Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus. Im letzten Absatz schreibt der Autor zu den Auseinandersetzungen um die Zukunft Israels:
"Die Existenzfähigkeit Israels bemißt sich nicht an den abstrakten Definitionen seiner Existenz, auch nicht an vermeintlich verbindlichen Bestimmungen seiner »Identität«, die es sich von der Warte einer hegemonialen Ideologie selbst aufzwingt. Es sind Lebenswelten entstanden, die aus ihrer historischen Gewordenheit zu begreifen sind, nicht anhand der ideologisch-rigiden Kriterien des puristischen Meisterplans, den sich der klassische Zionismus anmaßte (vielleicht auch anmaßen mußte). Ein Zugehörigkeitsgefühl der Bewohner dieses Landes ist herangereift, welches aus der Logik dieses Lebensweltengeflechts (samt seiner historischen Gewordenheit) dekodiert werden muß, nicht anhand von Pauschalpostulaten der Ideologie des »Neuen Juden«. Aber eben darin muß Israel auch entscheiden, was es will. Die Entscheidung ist angesichts der inneren Zerrissenheiten und Verstrickungen nicht einfach. Und doch kann Israel eines auf keinen Fall wollen: im unbestimmten Zustand der Stagnation verharren, in der geschichtlichen Grauzone einer Aporie zwischen real perpetuierter Okkupation und ideologischem Anspruch auf Frieden. Das werden die Palästinenser nicht zulassen, vermutlich auch nicht »die Welt«, vor allem aber nicht die innere Strukturlogik des nun mal so an diese historische Weggabelung gelangten Israels, wenn es denn das von ihr produzierte geschichtliche Ungemach überleben will."
Auch wenn das "geschichtliche Ungemach" bestimmt nicht von Israel allein produziert wurde, so öffnet das Zitat doch den Blick darauf, dass Israel tatsächlich vor einer unvermeidbaren Entscheidung steht, nämlich ob und wie es in Frieden leben will. Ich gehe davon aus, dass diese Gesellschaft langfristig nur überleben kann, wenn sie Frieden schließt mit den arabischen Nachbarn, aber eben zunächst auch mit dem "inneren Feind", den arabischen Israelis und den Palästinensern generell. Nur so kann dieses zerrissene Land bestehen und sich hoffentlich positiv entwickeln. Diese Aufgabe scheint heute kaum lösbar angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse. Dennoch muss sie um der Zukunft Israels willen gelöst werden. Es müsste eigentlich klar sein, dass die Rechte und die Arbeitspartei nicht im Interesse Israels handeln, wenn sie Gaza mit Krieg überziehen und die Besatzung des Westjordanlandes aufrechterhalten, denn so verhärten sich die Fronten immer weiter. Ich sehe ein Protestpotenzial in Palästina, dass sich durch die verzweifelte Lage extrem gewaltsam Bahn brechen könnte. Krieg und Terror von beiden Seiten kann aber keine Lösung für ein Problem sein, das beide nur gemeinsam lösen können. Keiner kann den anderen ins Meer treiben. Eine offene und gleichberechtigte Kooperation ist unabdingbar, jedoch zur Zeit kaum absehbar.
Da wir schon über Zusammenarbeit reden, möchte ich den Beitrag zu Israel auf diesem Blog seit langem mit dem hoffnungsfrohen exemplarischen Hinweis auf den Parents Circle - Families Forum beenden. Über den Elternkreis habe ich bereits 2007 aus Israel während meiner Bildungsreise berichtet. Es ist ein Zusammenschluss von Menschen, die durch Gewalt im israelisch-palaestinensischen Konflikt einen ihnen nahen Menschen verloren haben. Die Organisation gibt es auf palästinensischer und israelischer Seite, und beide arbeiten eng auf vielfältige Art zusammen, um weitere Eskalation und Gewalt zu verhindern. Das Schicksal unseres damaligen Referenten Rami, dessen 14 jährige Tochter bei einem Selbstmordattentat ums Leben kam, und andere grausame Schicksale bewegen hoffentlich viele zum Umdenken in dem Sinne, dass Frieden in Israel und Palästina erreicht werden kann, wenn die Menschen aufeinander zugehen, miteinander sprechen, einander (versuchen zu) verstehen und kooperieren. Dies also als kleines Licht am Ende des Tunnels.

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