10. April 2008

Ungewohnte Verhältnisse in Hessen

Der hessische Landtag hat sich mitterweile zur neuen Legislaturperiode konstituiert und wie erwartet müssen wir Koch noch länger ertragen, wenn auch "nur" als Geschäftsführung. Von Québec bzw. Kanada aus sieht das Ganze aber nicht so verzwickt aus wie für viele in Hessen, denen es vielleicht wie Henning ergeht, mit dem ich mich kürzlich über das Thema ausgetauscht habe. Aus der Nähe scheint die Lage schwierig, wenn nicht aussichtslos, aus linker Sicht vielleicht besonders, wenn mensch einer aktuellen Forsa-Umfrage, die eine schwarz-gelbe Mehrheit bei Neuwahlen suggeriert, Glauben schenkt. Ich beschäftige mich seit Beginn des Semesters intensiv mit dem politischen System Kanadas und Québecs, was mich einerseits vom Verfassen längerer eigener Beiträge abhält, andererseits aber doch ganz schön bereichernd ist. Für Hessen ist aktuell vor allem die hier recht übliche Praxis von Minderheitsregierungen interessant. Auf Bundesebene gibt es seit Januar 2006 eine Minderheitsregierung. Die Kondervative Partei erhielt nur schlappe 124 der insgesamt 308 Sitze im Unterhaus. Premierminister Harper sucht sich für seine Regierung also wechselnde Mehrheiten unter den drei weiteren Parteien, die im Parlament in Ottawa vertreten sind: Liberale, Sozialdemokraten und Bloc Québécois. Hier ist dies absolut nichts Ungewöhnliches, sodass ich aus der Ferne eher das Positive sehe: Hessen könnte zum zweiten Mal Vorreiter werden für andere (westdeutsche) Länder und die Bundesebene, indem es nach der Einbeziehung der Grünen in die erste rot-grüne Landesregierung 1985 wieder einmal politisch innovationsfreudig ist. Als Hoffnungsschimmer sei daran erinnert, dass es nach den Wahlen 1983 zunächst ganz und gar nicht so aussah als könne die später besiegelte Koalition (und zuvor die Tolerierung) zustande kommen. Das bekannte Zitat des SPD-Ministerpräsidenten Holger Börner gegen militante DemonstrantInnen gegen die Startbahn 18 West und somit auch gegen die Grünen aus dem Jahre 1982 spricht Bände: "Ich bedauere, daß es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins auf die Fresse zu hauen. Früher auf dem Bau hat man solche Dinge mit der Dachlatte erledigt.“ (Bunte, zitiert von Wikipedia)

Zur Problematik einer hessischen Minderheitsregierung folgt nun der Auszug aus einem Text von PolitikerInnen der LINKEN, der vor einigen Tagen in der jungen Welt erschienen ist und per Klick online in voller Länge nachzulesen ist: Hessische Verhältnisse.

Für eine rot-grüne Minderheitenregierung ist derzeit keine Mehrheit vorhanden. Das liegt an der SPD. Schwarz-Gelb ohne Mehrheit, Rot-Grün ohne Mehrheit, Die Linke ist das Zünglein an der Waage. Was also tun?

(...) Der Test – wechselnde Mehrheiten. Direkt Neuwahlen anzustreben, traut sich im Moment niemand. Aber eine entpolitisierende Stimmung macht sich breit. Es wird über die Köpfe der Menschen hinweg verhandelt, ihre Probleme sind Verschiebemasse. Das muß vor allem Die Linke verstehen. Sie muß politische Kampagnen anstoßen, gegen Studiengebühren, für Lohnerhöhungen, für die Gemeinschaftsschule, für Mindestlohn und Vermögensabgabe. Im Landtag und noch mehr auf den Straßen und Plätzen, in der Gesellschaft und Öffentlichkeit. Leistet sie das nicht, trifft der Verdruß über die Kungelei auch Die Linke. Keine noch so kluge Taktik kann und darf Politik ersetzen.

Jetzt konstituiert sich der Landtag. Nun muß sich aus dem Landtag heraus das entfalten, was Die Linke mit einer rot-grünen Minderheitenregierung wollte: Die Gewichte sollten weg von den Regierungsbänken hin zum Parlament und vom Parlament hinaus in die Bevölkerung verschoben werden. Jede politische Kraft muß jetzt das, was sie im Parlament will, in der Bevölkerung mehrheitsfähig machen. Für Die Linke eine Chance, für andere ein Zwang. Die amtierende Regierung wird viel blockieren können, gerät damit aber weiter in die Defensive. Linke, SPD und Grüne können testen, was geht und was nicht. Niemand muß sich verbiegen und alle müssen für ihre Vorstellungen kämpfen. Die Wählerinnen und Wähler haben den gängigen Va­rianten, Koalieren oder Tolerieren, eine weitere hinzugefügt: die einer Minderheitsregierung.

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